09. Das Schweigen der Finnen (DE)
Ja, wie soll ich diesen Artikel denn nun beginnen? Es fühlt sich an, als wäre ich schon wieder Ewigkeiten in Finnland, und dann wieder, als wäre zwischen meiner Abreise aus Thailand noch nicht mal ein Wimpernschlag vergangen. Vielleicht sollte ich einfach mal eine kurze Anekdote aus meiner ersten Woche in Tampere erzählen, von wegen ungewöhnlicher Einstieg und so. Also. Vor ein paar Tagen durfte ich ein besonders kluges Exemplar Mensch beobachten. Beziehungsweise eigentlich handelte es sich dabei um ein finnisches Oachkatzl. Für meine Preissn-Friends, die dieses Wort noch nicht kennen sollten: Das ist Bayerisch für Eichhörnchen. Dick eingepackt und mit Bullet for my Valentine im Ohr war ich auf dem Weg Richtung Campus der Uni Tampere, um einem Sportkurs im Uni-Gym zu besuchen. Ein paar Meter vor mir stakste ein Typ, offensichtlich auch ein Student, durch den Schnee, ich beachtete ihn nicht weiter. War eher mit der Eiseskälte um mich rum beschäftigt. Da, auf einmal, blieb der Typ stehen und bückte sich. Schuhband offen? Fehlanzeige. Er begann, in einer Schneeverwehung zu graben. Fasziniert blieb ich auch stehen und beobachtete das Ganze. Was hatte er bloß vor? Hatte er was verloren? Wollte er eine Schneeballschlacht starten, mit Pulverschnee? War er am Erfrieren und hatte daher Halluzinationen? Nichts davon traf zu. Stattdessen förderte er zwei Dosenbier zutage, öffnete eines davon, und gönnte sich einen Schluck. Aha. Das war natürlich eine smarte Art, den Schnee in einen Naturkühlschrank umzufunktionieren und seine Weghalbe sicher zu verstauen. Man darf nur nicht vergessen, wo man sein Bier eingegraben hatte. Oachkatzlstyle. Pro-Tipp: Ab und zu mal im Schnee nach Freibier graben.
Ziemlich genau eine Woche bin ich nun in Tampere, und ich habe bereits jetzt schon offensichtlich viele kleine Stories aus meinem finnischen ERASMUS-Alltagsleben zwischen Uni, Studi-Wohnheim und (sehr extensivem) Freizeitleben zu erzählen. Dafür werde ich natürlich viele, viele Wörter gebrauchen, um einige Wörter mehr, als die Finn*innen selbst zur Wiedergabe dieser Anekdoten verwenden würden. Denn wenn mir eines hier an den Locals aufgefallen ist, dann ist es ihre Ruhe, Zurückhaltung, und vor allem ihr Schweigen, gepaart mit einer großen Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit. Aber eigentlich komme ich damit gut zurecht, da Deutsche jetzt auch nicht unbedingt die extrovertiertesten Herzlichkeitsweltmeister sind. Es dauert halt ein bisschen, bis die Finn*innen auftauen (hehe, passt zu den Wetterverhältnissen), aber wenn man mal ein Thema findet, für dass sie brennen, geht's echt ganz schnell. Oder wenn sie betrunken sind. Kenn ich von irgendwoher. Bezeichnend für die finnische Wortkargheit war ein Eishockeyspiel, welches ich gleich an meinem zweiten Tag besucht habe. Tampereen Ilves (einer der zwei lokalen Vereine in Tampere) gegen Vaasan Sport, ein Heimspiel voller Nervenkitzel: Im letzten Drittel des Spiels erzielten die Ilves das 1:1, es stand also unentschieden, ging in die Verlängerung, schließlich Penaltyschießen. Im deutschen Fußballstadion würde die Stimmung bei den Fans und Zuschauer*innen überkochen, im finnischen Fall hielt sich das eher in Grenzen. Schweigen. Als die Ilves dann doch noch das entscheidende Tor erzielten und das Spiel gewannen, wurde kurz gejubelt und aufgestanden, aber bloß nicht zu laut und bloß nicht zu lang. Da kommt man sich als Deutsche*r dann schon fast temperamentvoll vor im Vergleich.
Finnische Cuisine - Ist das noch Punkrock?
Was echt cool an der finnischen Geradlinigkeit und Gelassenheit ist, ist die Tatsache, dass man hier in puncto Hipsterdasein zero fucks gibt. Second Hand und Vintage Shops ja, gerne, aber eigentlich nur, um sich nachhaltig und kostensparend mit Winterkleidung allà South Park einzudecken. Wie bei South Park fühl ich mich zumindest, wenn ich mit drei Paar Strumpfhosen, selbstgestrickten Socken, Strickpulli, einer unförmigen Winterjacke, dem Schal im Gesicht und einer Wollmütze durch Tampere mehr schlittere als gehe. Was ich hier echt feiere, ist die Tatsache, dass man hier relativ uneitel ist, was Styling angeht, aber die Leute trotzdem ziemlich cool dabei aussehen. Fast jede*r finnische Studi besitzt beispielsweise einen Overall, auf dem diverse Patches aufgenäht sind. Die Patches erhält man auf Partys, in Cafés, Bars, von Studierendenvereinigungen, einfach überall, und sollen zeigen, wo man schon war und was man erlebt hat. Gleichzeitig drückt die Farbe des Overalls aus, zu welcher Studierendengruppe oder Fachrichtung man gehört. Grüne Overalls stehen in Tampere beispielsweise für Politikwissenschaften. Man kann mit den Overalls also Zugehörigkeit und Verbundenheit ausdrücken, aber gleichzeitig sich auch individuell repräsentieren durch die Aufnäher. Wie mit den Jeanskutten in der Metalszene. Vor allem beim Ausgehen tragen die finnischen Studis gerne ihre Overalls, die Ärmel binden sie aber normalerweise über der Hüfte zusammen. Es schaut schon echt cool aus. Ich bin stark am Überlegen, mir auch so ein Teil zu kaufen. Weiß allerdings nicht, wie oft ich den in Deutschland tragen würde, wahrscheinlich eher auf Festivals und Konzerten, aber weniger im Alltagsleben. Abgesehen davon merkt man in Finnland: Punk is not dead. Ich sehe am Campus so viele Punks, Emos, Goths und Metalheads laufen wie sonst nirgendwo außerhalb vom Nova Rock und Co. Passt aber irgendwie auch zu Finnland. Gefühlt lebt man hier wieder in den 90er oder frühen 00er Jahren, was die Lebendigkeit der Rock- und Metalszene angeht. Ich mag das, gut, dass ich auch ein paar meiner Bandshirts dabei habe. Die sind in Kambodscha irgendwie recht oft im Schrank geblieben.
Was Finnland von Kambodscha allerdings lernen kann, ist das Kochen und vor allem das Würzen. Alles, was ich bisher hier gegessen und nicht selbst gekocht habe, schmeckt...nach nix. Untervögelt, unsexy, einfallslos. Klingt jetzt hart, aber ist leider so. Nach vier Monaten ständiger Foodgasms und Geschmacksexplosionen in Asien bin ich allerdings auch ziemlich verwöhnt, was Kulinarik angeht, von meiner Zeit in Italien ganz zu schweigen. Was hier allerdings echt easy geht, ist eine vegane Ernährung. Wie bereits erwähnt, ist Finnland ziemlich öko und daher auch Veggie-freundlich. Die Unimensa bietet jeden Tag ein veganes Gericht an, und das für wenig Geld. Die Gerichte klingen dabei zuerst wahnsinnig innovativ, kreativ, experimentell. Meine erste Speise in der Unimensa waren Pulled Oats (also das pflanzliche Equivalent zu Pulled Pork) mit Gemüse. Das hier Hafer als regionales Ersatzprodukt verwendet wird, finde ich klasse. Also voller Vorfreude zur Selbstbedienungstheke und eine riesige Portion Haferpampe aufladen, man zahlt hier pro Teller, nicht pro Menge. Tja, nach den ersten Bissen hatte ich jedoch das Bedürfnis nach einem gut sortierten Gewürzregal. Definitiv ein bisschen mehr Salz und (am besten kambodschanischer) Pfeffer, Paprika, Muskatnuss, ein kleines bisschen Kümmel vielleicht, Chilli, Knoblauch... Ich weiß ja, dass man von Mensanahrung nicht zu viel erwarten kann, aber trotzdem. Die Mensa der Uni Passau hat ja auch immer ganz passabel abgeschmeckte Mahlzeiten zubereitet, und man konnte selbst nochmal nachwürzen. Hier: Fehlanzeige. Same goes for Karjalanpiiraka, ein mit Reis gefülltes, gefaltetes Brot. Haben wir vor ein paar Tagen zu Gast bei anderen finnischen Studis probieren dürfen. Hab mir richtig banausenmäßig Hummus drauf geklatscht, und tadaaa, es hat plötzlich nach was geschmeckt. Aber okay, man kann nicht alles können.
Was die Finn*innen natürlich ganz hervorragend können, ist Saunieren. An diesen Lifestyle könnte ich mich gewöhnen: So ziemlich jedes Haus hat eine Sauna, auch das Studi-Wohnheim, in dem ich lebe. Und das Uni-Gym. Nach dem Sport, vor der Dusche, noch ein bisschen die Muskulatur in der Sauna entspannen, einfach nur herrlich... Und die Schlafqualität wird dadurch auch umso viel besser. Wobei ich hier dank der ständigen Dunkelheit eh ausgezeichnet schlafe. Da es bereits um 15 Uhr dunkel wird und dann auch bis um 9 Uhr morgens dunkel bleibt, bin ich oft schon um 21 Uhr relativ bettfertig, und schlafe teilweise 9 bis 10 Stunden durch. Das habe ich echt schon ewig nicht mehr geschafft! Ich hol hier gefühlt das Schlafdefizit der letzten Monate in Kambodscha nach. Die andere Seite der Medaille besteht darin, dass mein Kaffeekonsum auf neue Höhen gestiegen ist. Ich brauch jetzt oft auch abends nochmal eine Tasse Kaffee, um noch ein paar Stunden durchzuhalten. Sobald es dunkel wird, sagt mein Körper nämlich recht schnell: Zeit fürs Bettchen! Was nicht immer mit den Plänen meiner Mitbewohner*innen im Wohnheim vereinbar ist. Finnland ist Weltmeister im Kaffeetrinken, und dementsprechend gut sind auch die Kaffeespezialitäten (Kaffeekochen können sie zum Glück schon). Kaffee bleibt also mein langfristig bestehendes Laster.
Bin ich alt geworden?
Nächster Punkt: Mein neu erwachtes Leben als Studentin. So richtig studiert habe ich ja das letzte Mal im MAI. Einfach, weil ich mit maximaler Effizienz meine Klausuren in Ravenna geplant und abgearbeitet habe, um einen stressbefreiten Sommer zu erleben, und dann bin ich ja voll ins Arbeitsleben-Mindset abgetaucht. Jetzt auf einmal hab ich wieder einen komischen Biorhythmus, komm morgens schlecht aus den Federn (bin heute, Freitag, um 12 Uhr aufgestanden, und hab Stand jetzt noch nix gemacht außer diesen Beitrag zu verfassen), stell Fragen wie "Was studierst du so?" "Ist das klausurrelevant?" "In welchem Hörsaal haben wir Vorlesung?", und diktiere plötzlich wieder selbst meine Zeiteinteilung, nicht, wie bei der KAS, mein Outlook-Kalender und Asana. Irgendwie bin ich vom Mindset her allerdings bereits mit einem Fuß in der Arbeitswelt, immer wieder überlege ich, wie es nach dem Master weitergeht, und natürlich, was ich in meiner Masterarbeit erforschen möchte. Ich geh das ganze Studium daher auch recht ernsthaft an und bin seit Tag 1 im Bilde über Pre-Readings, Abgaben und Workload. Wobei ich ja schon immer eine Streberin war. Die meisten ERASMUS-Studis, die ich hier kenne, sind am Anfang oder mitten in ihrem Bachelorstudium, und sind daher im Schnitt 5 Jahre jünger als ich. Und der Altersunterschied macht sich auf verschiedene Weisen bemerkbar, und zwar vor allem im Bezug auf das Partyleben. Ich bin jetzt ja kein Kind von Traurigkeit, aber ich geh halt einfach nicht mehr mehrmals pro Woche im Club feiern, wie noch in den ersten Bachelorsemestern. Alkohol vertrage ich auch immer schlechter. Wenn ich mal verkatert bin, ist mindestens der komplette nächste Tag für den Arsch (Edith nennt das den "Vroni-Sonntag"). Ein Problem, dass man mit 19, 20, 21 oft noch nicht hat. Ich gönn's den "Kids" von ganzen Herzen, die hatten ja alle dank Covid noch kein richtiges Studentenleben, und gestern bin ich auch mitgegangen in eine dieser ERASMUS-Semester-Opening-Partys. Aber ich habe schon so viele Semester Openings und wilde Studentenpartys erlebt, dass ich mich schon ein bisschen wie eine Oma fühle, wenn ich sage "Damals, als ich noch im Bachelor studiert habe...". Aber alle echt superlieb und wirklich knuffig, schwöre. Und ein paar Gleichaltrige/Gleichgesinnte habe ich mittlerweile auch kennengelernt, mit denen man die Dinge etwas ruhiger angehen kann. Mein fortgeschrittenes, ja nahezu seniles Studentinnenalter von 26 Jahren merkt man mir scheinbar aber nicht an. Wurde gestern beim Bierkaufen allen Ernstes nach dem Perso gefragt.
Ab gesehen davon macht das Studium an der Uni Tampere bisher echt Spaß. Die Kurse, die ich gerade belege, sind thematisch spannend, die Dozierenden sind kompetent und gut organisiert. Was mich aber am meisten hier begeistert, ist die Uni Bib. So ein toller Ort, nicht nur zum Lernen, sondern einfach so zum Entspannen! Es gibt abgeschirmte Sofas und Couchstühle mit Steckdosen, die zum Reinkuscheln und Schuhe ausziehen einladen. Definitiv ein Ort, wo man mit einer Tasse Tee in der Hand auch mal in Ruhe ein gutes Buch lesen kann, Zeichnen, Tagebuch oder einen Brief schreiben kann, oder den ein oder anderen Power Nap abhalten kann. Oder, wie jetzt gerade, am Blog arbeiten kann. Wird wahrscheinlich einer meiner Happy places in den nächsten Monaten. Alles ist mit viel Sorgfalt darauf ausgelegt, den Studierenden und dem Personal nicht nur ein möglichst angenehmes und produktives Lernerlebnis zu ermöglichen, sondern auch genügend Raum für sich selbst und zum Wohlfühlen zu bieten. Hut ab. Dieser finnisch-flauschig-cozy Lifestyle ist echt toll.
Wie man dem Beitrag anmerkt, hat sich diese Woche schon wieder allerhand ereignet, und ich könnte noch lange so weitermachen. Aber das spar ich mir auf für die nächsten Posts, in denen ich dann mehr erzähle von meinem Alltag in Tampere, und natürlich auch zu meinen kleinen und großen Reisen in und um Finnland herum. Da zeichnen sich tatsächlich schon die ersten Pläne ab, selbstverständlich in bester Reisegesellschaft. ;) Die Finnen schweigen, aber die Vroni plappert natürlich munter weiter.
Bis dahin Kuss auf die Nuss,
Vroni
P.S.: Sorry für die etwas uninspirierten Fotos, war noch nicht so viel am Knipsen hier. Wird demnächst wieder besser, versprochen!





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